Eine weitere Neuigkeit ist der Fund eines Ringbuchs im Nachlass, das für die Gesamtkonzeption des Romans produktionsästhetischen Aufschluss gibt. Döblins Exilort Hollywood spielt dabei eine weit größere Rolle als bislang angenommen. Dieses Ringbuch enthält eine Zeitungsausschnittsammlung aus den Jahren 1943 bis 1945. Dabei handelt es sich um Fotos mit Bildunterschriften aus der Los Angeles Times, die Hass, Streit, Rachsucht, Diebstahl, Gewalt und Mord dokumentieren.
In Döblins Sammlung geht es nicht wie später in Kenneth Angers Hollywood Babylon (1959) um eine abschreckende chronique scandaleuse; Döblin interessierten Meldungen von Unbekannten ebenso wie die von Stars, er schnitt Bilder aus von vernachlässigten Kindern, Streit um Kinder vor Gericht, Verzweiflungstaten von Individuen neben Bildern von dem pazifischen und europäischen Kriegsgeschehen, akutem Kampf ebenso wie Gräberfeldern in allen Teilen der Welt und Fotos von Hitler und Mussolini. Das Ringbuch schließt mit Aufnahmen von Ordensschwestern, die in Ruinen aufräumen.
Aus Döblins Fluchtautobiographie Schicksalsreise wissen wir, dass er The great Dictator sah und Charlie Chaplins Vaterschaftsprozess in Hollywood verfolgte. Details gehen in Hamlet ein: Die Hauptfigur Gordon Allison teilt nicht nur den eigentlichen Vornamen Charles mit Chaplin, sondern auch dessen ›Dickens'sche‹ Jugend. Populär war damals auch Tennessee Williams, dessen Glasmenagerie 1944 uraufgeführt wurde. Das Kapitel Die moderne Hexenküche im Fünften Buch des Hamlet greift dasThema der Verwechslung von Freiheit mit dem Idol der Selbstverwirklichung in ähnlicher Weise auf.
Der Roman ist durch eine Rahmenhandlung und zehn Binnenerzählungen strukturiert. Döblins Hamlet spielt an keinem königlichen Hof, sondern in einer gutsituierten Durchschnittsfamilie in England. Die Rahmenhandlung ist eine Familiengeschichte: Der 1945 bei einem Kamikazeangriff schwerverletzte Marinesoldat Edward Allison kehrt in sein Elternhaus zurück, und die Eltern wollen ihm helfen, seine Traumata zu überwinden. Ihn quält die Frage nach der Schuld am Krieg und grundsätzlich, wie es überhaupt zu Kriegen kommt. Daher entwickelt man den Gedanken einer Redekur: Man will Edwards (Hamlets) Fragen in Erzählabenden auf den Grund gehen. In den Erzählungen der Familienmitglieder entfaltet sich ein historisches, soziologisches und psychologisches Menschheitspanorama. Virtuos erzählt etwa die Binnenerzählung Die Prinzessin von Tripoli – ohne den Begriff der Kollektivschuld zu gebrauchen – davon, welch enorme Dynamik Gruppendruck hat. Edward wie dem Leser wird klar, dass keine Epoche und keine Person vor den Auswirkungen des jeweiligen Zeitgeistes gefeit ist, auch weil Ausgrenzungsmechanismen immer greifen.
Schuld begegnet in Hamlet als Bestandteil der menschlichen Natur, als Handeln wider besseres Wissen und als unfreiwillige Verstrickung (Ödipus). Besonders bekannt wurde die Binnenerzählung Die Mutter am Montmartre, das grandiose Porträt einer Mutter, die vergeblich auf ihren verschollenen Sohn wartet. Stoff zu seinem Roman fand der Autor in Büchern der Los Angeles Public Library, im eigenen familiären Umfeld und vor allem eben in der täglichen Zeitungslektüre.
Döblin, der mit Schriftstellerkollegen eines Cafés in Hollywood verwiesen wurde, weil sie Deutsch sprachen, blieb in zwölf Jahren Emigration bei seiner Muttersprache. In für ihn typischer Stilvarianz von Ironie über Pathos bis hin zum Grotesken führt der Hamlet-Erzählreigen universal gültige anthropologische Konstanten vor. Eine erfrischend erzählte Version des Mythos von Pluto und Proserpina veranschaulicht, dass Schuld sich auf dem Niveau der heidnischen Götter perpetuiert, wenn Umkehr und Versöhnung ausbleiben.
Wie bei Shakespeares Hamlet scheinen die Hindernisse auf dem Weg zu Einsicht, Vergebung und Versöhnung unüberwindlich zu sein. Tyrannen müssen ausgemerzt werden, lautet die Botschaft der großen Erzählung vom König Lear; aber Selbstsucht, Gier und Manipulation prägen auch engste menschliche Beziehungen und führen im Fall von Alice, der Mutter Edwards, zur Selbstzerstörung. An ihrem selbstgewählten Schicksal wird deutlich, dass Schuld nicht nur von Gott entfremdet, sondern vor allem auch vom eigenen wahren Selbst.
Es hat wenig Zweck, den Anderen verändern zu wollen, sagt die Geschichte der Theodora. Man muss mit Umkehr und Versöhnung bei sich selbst anfangen, dem Hass und der Lieblosigkeit durch liebevolle Zuwendung zum Nächsten begegnen – dafür steht das Klostermotiv am Ende der Binnengeschichten und auch der Rahmenerzählung. Und es hilft auch nicht, den Himmel wegen der Zustände auf der Erde anzuklagen. Die Humoreske Im Himmel / Der Erzengel Michael konterkariert Goethes Prolog im Faust; auch im Himmel ist nichts wohlgeordnet, sondern Michael ist auf den Heroen Herkules eifersüchtig, und er hat falsch daran getan, Adam und Eva aus dem Paradies zu jagen. Um die Schuld der Väter zu überwinden, braucht es eine zweite Chance.